Fakt ist, dass Hochsensibilität ein Thema ist, das in unserer Gesellschaft immer mehr Raum einnimmt.
Längst werden solche Menschen nicht mehr als überempfindliche Spinner oder krankhafte Hysteriker abgetan. Wissenschaftlicher sprechen von einer Ausbildung einer speziellen neuronalen Konstitution. Zahlreiche Studien und Tests belegen unterschiedliche Ausprägungen dieser Form von Wahrnehmung und Erleben.
Doch sollte man auch bei Hochsensibilität berücksichtigen, dass diese Grundeigenschaft immer im Kontext der gesamten Persönlichkeit betrachtet werden muss.
Je nach Ausprägung von Begabungen und Interessen, Bildung und gesellschaftlicher Zugehörigkeit stellt sie sich anders da.
Die Vielschichtigkeit der Empfindungen, das Streben nach Harmonie und tiefer Schönheit drückt sich durch bildende Kunst von Malerei bis Musik aus.
Der ausgeprägte Altruismus und Gerechtigkeitssinn weckt das Interesse für soziale Berufe.
Eine starke Werteorientierung und große Gewissenhaftigkeit gepaart mit Verantwortungsbewusstsein lassen das Bedürfnis entstehen in lehrenden oder heilenden Berufen tätig zu sein.
Eine hervorragende multiperspektivische Wahrnehmung zusammen mit einer psychosozialen Feinwahrnehmung, kann herausragende Architekten, Städteplaner und Zukunftsforscher zu völlig neuen Visionen inspirieren.
Das mag unter Umständen nach einer Erhöhung von Werten klingen. Doch sollte an dieser Stelle auch gesehen werden, dass das Bedürfnis nach Ruhe und Zeit deutlich größer ist als bei anderen. Entsprechend des extrem intensiven Empfindens und der permanenten Vielschichtigkeit von ganzheitlichem Erleben, entsteht die häufige Notwendigkeit des Zuordnens und Auswertens. Wird dieser Raum für die komplexen inneren Vorgänge nicht gegeben, kann dies zu Stress, Unruhe, Reizüberflutung, nervlicher Überbelastung und unterschiedlichen Krankheiten führen.
Wir sollten bei alle dem immer berücksichtigen, dass auch der normal sensible Mensch bisweilen hochsensibel reagiert und der hochsensible wiederum gelernt hat sich angepasst zu verhalten.
Die nun folgenden Alltagsbeispiele, die den Unterschied des Erlebens von hochsensiblen und normal sensiblen Menschen darlegen, dienen zur Verdeutlichung, wie unterschiedlich das Empfinden sein kann. Werte, wie gegenseitiger Respekt, Achtsamkeit und Eigenverantwortung, die das Miteinander prägen, bleiben bei jedem Grad von Sensibilität sicherlich erstrebenswert.
I. Die Natur: Ein Baum
Der Hochsensible betrachtet einen Baum und entdeckt eine Welt.
Der Baum ist grün, leuchtet von innen. In ihm leben Vögel, Kleintiere, die einzelnen Blätter werden von der Energie, die ihn am Leben hält, sanft bewegt. Zudem umgibt den Baum eine Aura, die erahnen lässt, dass seine Zweige sich nach oben strecken und mit kosmischen Strahlen verbinden. Der hochsensible Mensch verfolgt die Strahlen, kommt zur Quelle und erkennt, dass der Baum eine Seele hat, uralt und weise. Wenn die Zeit reicht, bekommt er von dem Baumdeva eine Botschaft geschenkt.
Ein normal sensibler Mensch sieht einen Baum.
Er registriert seine Größe, seine Form, sein Art. Sieht er Früchte an dem Baum, pflückt er sie viellicht, kostet sie und freut sich über den Geschmack. Wenn es heiß ist, ist es angenehm, wenn der Baum Schatten spendet. Er setzt sich darunter und ruht sich aus. Dann geht er weiter und vergisst den Baum. Für ihn stellt er keine eigene Welt da. Es bleibt eine Begegnung am Wegesrand.
II. Der Innenraum: Ein Restaurant.
Ein hochsensibler Mensch betritt ein fremdes Restaurant und wird sofort mit Sinneseindrücken überflutet.
In einem Bruchteil von Sekunden scannt er automatisch das gesamte Energiefeld, nimmt die Grundschwingung wahr. Ist es sicher? Oder ist es besser sofort wieder zu gehen? Welcher Platz bietet Schutz und gleichzeitig einen Überblick über den Raum? Gerüche, Geräusche, Bewegungen, das Innen das Außen. Türen, die sich öffnen und schließen. Menschen, die sich unterhalten. Menschen die Essen, die kauen, schmatzen, trinken, schlürfen. Besteck, das auf dem Teller kratzt. Die Kaffeemaschine hinter dem Tresen, das Zischen der heißen Milch. Zu laute Gespräche am Nebentisch. Fremde Unterhaltungen, die in die eigenen Gedanken eindringen. Handyklingeln, schemenhafte Musik aus den Kopfhörern anderer, pralle Musik aus den Lautsprechern. Schmerzhafte Dissonanzen. Das Klicken der Kasse, Kellner die Bestellungen aufnehmen, Rechnungen, die bezahlt werden. Menschen, die kommen und gehen. Bei jedem Öffnen der Eingangstür mischen sich die Straßengeräusche unter alle anderen Geräusche im Innenraum.
Ein normal sensibler Mensch Betritt das Restaurant, entdeckt einen freien Platz und setzt sich.
Er studiert die Speisekarte. Gibt seine Bestellung auf. Holt sein Handy heraus, liest die Nachrichten, antwortet, schreibt. Das Bestellte kommt. Während er weiter auf das Handy schaut, vielleicht auch in der Zeitung liest, sich Notizen macht, trinkt oder isst er. Dann bezahlt er und geht. Wenn der Ort ihm gefallen hat, das Getrunkene und Gegessene in Ordnung waren und der Service gut, speichert er die Restaurantadresse in seinem Handy ab. Er geht von draußen nach drinnen. Die Tür fällt hinter ihm zu.
III. Der Dialog: Freunde treffen sich
Der hochsensible Mensch trifft Freunde und Bekannte und bereitet sich innerlich darauf vor.
Bereits beim Eintreffen und dem ersten Begrüßen nimmt der Hochsensible gleichzeitig die Stimmung jedes einzelnen und die Stimmung untereinander wahr. Er erspürt Spannung, Trauer, Stress, Angst, Wut, Blendereien, genauso intensiv, wie Freude, Glück, Ehrlichkeit und positive Erlebnisse. Während der Unterhaltungen filtert er das Erzählte und gleicht es mit dem Wahrgenommenen ab. Das führt dazu, dass der hochsensible Mensch Unstimmigkeiten unmittelbar registriert, abwägt, vorsichtig wird und sich gegebenenfalls innerlich zurückzieht. Warum diese Show? Warum wird nicht über das gesprochen, was wirklich bewegt? Selbstdarstellung und Verstellung sind dem Hochsensiblen fremd. Wenn er über etwas nicht erzählen möchte, schweigt er. Mit dem, was er anderen anvertraut, ist er vorsichtig. Die Angst nicht verstanden und dadurch verletzt zu werden, ist groß. Am Ende des Treffens hallt es lange in ihm nach. Oft bleibt die Angst nicht gemocht und falsch verstanden worden zu sein in ihm nach.
Der normal sensible Mensch trifft Freunde und Bekannte und tauscht sich über dies und das aus.
Man verabredet sich. Erzählt sich, was es Neues über sich und andere gibt. Jeder fühlt sich mehr oder minder wohl. Der gemeinsame Nenner ist die Zugehörigkeit über ähnliche Interessen, Jobs oder zurückliegende Erlebnisse. Die gegenseitige Bestätigung, der Raum zur Selbstdarstellung, wechselt sich mit allgemeinen Themen und Belanglosigkeiten ab. Die Gesprächsthemen gehen nie aus. Gerne bald wieder. Jeder kehrt in seinen Alltag zurück. Es war ein netter Abend.
III. Kunst und Kultur: Eine Vernissage
Der hochsensible Mensch betritt die Galerie und steuert zielstrebig die ausgestellten Exponate an.
Er betrachtet jedes Bild, jedes Objekt. Er versenkt sich in das, was er sieht, fühlt und erlebt. Für ihn ist die Kunst ein ganzheitliches Erlebnis. Sie berührt, verändert, weckt auf, stimuliert. Kunst kann ihn so begeistern, dass ein eigener kreativer Prozess in Gang gesetzt wird. Kunst kann so gesellschaftskritisch oder destruktiv sein, dass das emotionale Erlebnis noch lange Zeit nachwirkt und das ausgelöste Empfinden Raum zur Verarbeitung braucht. Der Hochsensible fühlt in der Kunst den Künstler. Er teilt mit ihm sowohl den Abgrund als auch die Euphorie. Ihm offenbart sich das Wesen des Künstlers. Doch mehr als das berührt ihn die ausgestellte Kunst.
Der normal sensible Mensch geht zu einer Vernissage und trifft Bekannte.
Bei einem Glas Prosecco freut man sich gemeinsam mit dem Galeristen über die gelungene Ausstellung. Registriert, dass wichtige Sammler zugegen sind. Neben einigen Bildern entdeckt man die ersten roten Punkte. Schön für den Künstler und auch für den Galeristen. Es lohnt sich jetzt in seine Kunst zu investieren. Ein gute Geldanlage. Noch ein paar Jahre und dann kommt der Durchbruch. Der normal Sensible betrachtet zwischendurch die Kunst. Findet ein paar anerkennende Worte für den Künstler. Man trifft sich anschließend beim Italiener und spricht über die kommenden Events.
IV. Das Bedürfnis nach Ruhe: Auszeit
Der Hochsensible braucht immer wieder Zeit für sich.
Um all das, was permanent auf ihn einströmt und die vielseitigsten Sinneswahrnehmungen erzeugt, zu filtern und zu sortieren, ist es für den Hochsensiblen sehr wichtig sich immer wieder von allem zurück zu ziehen. Innerhalb des Rückzugs werden Erlebnisse reflektiert und verarbeitet. Das besonders feine und sensible Nervensystem braucht Ruhe, um sich zu entspannen und zum eigenen Rhythmus zurück zu finden. Meditationen sind oftmals sehr hilfreich. Das Hineinhören in den Körper zeigt, ob er etwas braucht. Vitamine, eine Massage, Bewegung.
Der normal sensible Mensch geht von einem Termin zum nächsten.
Es ist in Ordnung, wenn nach der Arbeit noch ein Meeting angesagt ist. Am Abend können Freunde kommen oder eine Einladung angenommen werden. Am nächsten Abend folgt man einem kulturellen Angebot. Auch das Wochenende ist verplant. Am Sonntag einmal Ausschlafen reicht meistens aus, um die Reserven wieder aufzufüllen. Alles läuft. Sport hält fit. Der Organismus funktioniert. Ansonsten gibt es Medikamente oder ein Arztbesuch wird eingeschoben.
V. Der öffentliche Raum: Ein Fahrt in der S-Bahn
Der Hochsensible sitzt in der Bahn. Alles in und außerhalb der Bahn strömt auf ihn ein.
Er nimmt sein Gegenüber deutlich wahr. Gesten, Gespräche, Anspannung, Trauer Wut, Freude, Eile. Darunter mengen sich die verschiedensten Gerüche. Musik und Lärm. Streit und Erzählungen. Bedrohung und Zuneigung. Nach und nach tritt alles, was in der Bahn geschieht in sein Wahrnehmungsfeld. Zudem kommen die permanenten Veränderungen von aussteigenden und einsteigenden Menschen. Jede S-Bahn Station verändert zusätzlich die Stimmung, die von Außen nach Innen dringt. Der permanente intensive Wechsel von Eindrücken erzeugt beim hochsensiblen Menschen Stress. Der innere und äußere Schutzraum schrumpft in so einer Situation auf ein Minimum.
Der normal sensible Mensch sitzt oder steht und schaut auf sein Handy.
Er registriert am Rande, ob ein Platz frei wird oder seine Station zum Aussteigen kommt. Wird er angerempelt, weicht er aus oder beschwert sich. Streitereien geht er aus dem Weg. Nur das, was seine Komfortzone direkt angreift, ist für ihn von Bedeutung. Er ist schlichtweg auf seinem Weg zu seinem Ziel.
Auf diese Weise lassen sich viele Gegenüberstellungen fortsetzen.
Vor allem auch bei Kindern im Schulalter können anhand von unzähligen Beispielen gravierende Unterschiede im sozialen Verhalten, der Konzentration, den kognitiven Fähigkeiten und dem Langzeitgedächtnis gefunden werden. Entscheidend ist, dass wir wertfrei akzeptieren, dass es diese Unterschiede gibt.
Wo sich der einzelne zuordnet und welche Schlussfolgerungen er daraus zieht, sollte jeder selbst entscheiden. Wenn wir anerkennen, was ist, kann der eine vom anderen lernen und wir miteinander im Frieden sein.
2 Kommentare
Liebe Parvati,
vielen lieben Dank für diese wundervolle Veröffentlichung.
Dein Beitrag berührt mich sehr, da er die wesentlichen Unterschiede zeigt sowie urteilsfrei aufdeckt.
Trotz unterschiedlichem Erleben können sich alle Menschen in Liebe, Empathie und Verbundenheit begegnen sowie gegenseitig respektieren und achten.
Om Namaha Shivaya
Liebe Hera,
das hast Du sehr schön geschrieben. Danke. Denn genau darum geht es, um gegenseitigen Respekt und Achtung.
Von Herzen
Parvati