Durch die Wand (Kapitel 5)

Folge den aufregenden Erlebnissen einer Fengshui Beraterin

Durch die Wand

Stöhnend, noch von einem Alptraum durchgeschüttelt, wachte Sonja kurz vor dem Schrillen ihres Weckers auf. „Was war das?“ Nacht um Nacht kehrten diese Alpträume wieder. Tagsüber ertappte sie sich oft dabei nach der Ursache zu grübeln…

„Woher kamen diese Träume? Was war der Auslöser? Was hatte sich vor zwei Monaten in ihrem Leben verändert“

Ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Sonja arbeitete seit nun drei Jahren als Logopädin in einer Praxis. Sie liebte ihren Beruf. Ihr Freundeskreis war intakt. Ihre lose Beziehung zu Wolfgang war weder besonders aufregend, noch belastend. Sie konnte sich einfach nicht erklären, woher diese nächtliche Unruhe kam. Sie war bereits beim Neurologen gewesen, hatte sich hypnotisieren und einen Hormontest durchführen lassen. Alles war in Ordnung, im Normbereich sozusagen. Wenn sie bei Wolfgang übernachtete, schlief sie durch. Wenn er bei ihr übernachtete, bekam er von all dem nichts mit. Seit neuestem wurde sie von Kollegen angesprochen, ob alles in Ordnung sei, sie sehe so übermüdet und angespannt aus. Die tiefen Augenschatten ließen sich nicht vollständig überschminken und manchmal starrte sie mit getrübtem Blick völlig abwesend vor sich hin. Heute sollte sie zu ihrer Chefin gehen. Sonja hatte vor drei Tagen bei einer Behandlung mitten in der Anwendung aufgehört und aus dem Fenster gestarrt. Die Patientin war wütend aufgestanden und gegangen – und das war nicht das erste Mal. Einmal war ihr sogar ein Kind bei den haptischen Übungen von der Kletterwand abgerutscht.

Frau Klingbach erwartete sie mit strengem Blick. Sie hatte alle Vergehen von Sonja ordentlich aufgelistet vor sich liegen. „Sie wissen, warum ich Sie zu mir gebeten habe? So kann es nicht weitergehen. Ich schlage vor Sie nehmen sich eine Auszeit. Viellicht sollten Sie eine Kur für psychosomatische Störungen beantragen oder sich bei einem Psychiater ein leichtes Psychopharmaka verschreiben lassen. Wie auch immer, ich habe bereits Ersatz für Sie. Sie kann schon morgen anfangen.“ Sonja schluckte verunsichert ihre wütende Erwiderung runter und ging mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Ihr fehlte die Kraft, um sich jetzt noch mit der Klingbach anzulegen. Sie wollte nur raus hier, sich hinlegen und ausruhen. „Doch wohin sollte sie gehen? Bei ihr zuhause wurde alles nur noch schlimmer. Am Besten, sie würde verreisen.“ Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche und rief ihre Schwester am Bodensee an. „Hallo Monika, ich bin’s Sonja. Sag mal, kann ich Dich spontan für ein paar Tage besuchen kommen? Allerdings wäre es sehr spontan. Ich würde schon in einer Stunde hier in Berlin losfahren.“

Seit ein paar Jahren sahen sie sich nur noch an Weihnachten, entsprechend überrascht war Monika. Seit sie ein Seminarzentrum am Bodensee eröffnet hatte, war ihre Zeit knapp. Und Sonja fand den Esoterikrummel, wie sie es nannte, völlig absurd. „All diese weltfremden Spinner. Wie hält Du das nur aus? Die singen den ganzen Tag OM und unterhalten sich über ihre früheren Leben oder Außerirdische.“ war ihr in einer der Auseinandersetzung mit ihrer Schwester herausgerutscht. Monika hatte damals mit einem „Ach Sonja, gib doch einfach zu, dass Du keine Ahnung hast und voller dummer Vorurteile bist.“ das Gespräch beendet. An Weihnachten bei ihren Eltern sprachen sie nie darüber. Als gläubige Christen bestanden ihre Eltern darauf, Weihnachten als Fest der Liebe zu sehen und damit waren jegliche Diskussionen und vor allem Streitereien absolut verboten. Wenn dann ihr Bruder Emil mit seiner Frau und seinen vier Kindern eintraf, drehte sich ohnehin immer alles nur um die lieben Kleinen. So kam es, dass Sonja schon seit einigen Jahren nicht wirklich wusste, was Monika in ihrem Zentrum machte

In dem Treppenhaus zu ihrer Wohnung begegnete Sonja ihrer Nachbarin Frau Müller. Mit gehetztem Blick kam sie ihr vor ihrer Eingangstür entgegen. „Hallo Frau Müller, geht es Ihnen nicht gut?“ „Ach Sie sind. es. Sagen Sie mal, hören Sie nachts auch so komische Geräusche aus der Wohnung zwischen uns? Schrecklich! Ich kann seit Wochen nicht schlafen. Ich bin so geräuschempfindlich, dass ich diesen Singsang und die merkwürdigen Litaneien durch meine Zimmerdecke hindurch höre. Direkt über meinem Bett läuft da irgendwas Schreckliches. Und dann dieses Wimmern. Die Hausverwaltung weigert sich natürlich, etwas zu unternehmen.“ Sonja blickte Frau Müller irritiert an. „Sie auch?! Sie können auch nicht mehr schlafen? Ich höre ja nachts nichts, weil ich immer mit Ohropax schlafe. Aber ich habe auch seit Wochen Alpträume. Deshalb fahre ich jetzt erstmal zu meiner Schwester an den Bodensee.“ „Ah, ich verstehe. Dann wünsche ich eine gute Reise. Wenn Sie zurück sind, sollten wir und darüber vielleicht nochmal in Ruhe unterhalten. Jetzt muss ich auch los. Zahnarzttermin. Vor lauter Zähneknirschen ist mir jetzt schon der zweite Zahn abgebrochen.“ Weg war sie.

Beim Packen machte das, was Frau Müller gerade erzählt hatte, Sonja sehr nachdenklich. „Was war hier in dem Haus los? Was hatte sich verändert seit sie vor fünf Jahren hier eingezogen war?“ Natürlich kamen und gingen die Menschen. In einer Großstadt wie Berlin war es völlig normal, dass immer umgezogen wurde. Sie hatte aufgehört, sich viel darum zu kümmern. Manchmal bemerkte sie auch nur an den ausgetauschten Klingelschildern, dass wieder Neue eingezogen waren. In Berlin fuhren ständig die Transporter von Robben & Wientjes durch die Gegend. Selbst umziehen mit Freunden war zu einer Art Freizeitunterhaltung geworden. Erst schleppen, dann auf den Umzugskisten rumsitzen und gemeinsam Biertrinken und Pizza aus Pappkartons essen. Die Musik dazu kam aus den Handys. Man fieberte schon, wann es wieder eine solche Umzugsparty gab. Sonja hasste Kistenschleppen und erfand immer eine Ausrede, wenn auch ihre Freunde zu so etwas per Facebook oder WhatsApp alle zusammentrommelten.

Sonja fuhr mit ihrem Mini routiniert über die Autobahn, hörte abwechselnd ein Hörbuch, Musik und Radio. Wenn sie anhielt, holte sie sich einen Kaffee, ging zur Toilette und hatte es dann immer furchtbar eilig, möglichst viele Kilometer von ihrer Wohnung entfernt zu sein. Als sie Abends bei ihrer Schwester ankam, fand sie diese im Speiseraum ihres Zentrums in Mitten von Teilnehmern, die anscheinend für mehrere Tage ein Seminar gebucht hatten. Das bedeutete, dass sie auch im Seitentrakt schliefen und alle zusammen essen würden. Sonja stöhnte und gab sich einen Ruck.

Freudig sprang Monika auf und stellte sie lachend den schwatzenden Teilnehmern vor. „Meine Anti-Esoschwester aus Berlin. Seid nett zu ihr. Sie braucht bestimmt viel positive Energien.“ Peinlich berührt und wütend, bereute Sonja schon wieder, zu Monika gefahren zu sein. Doch ihr großer Hunger veranlasste sie, sich dazu zu setzen.

Um eine der Frauen hatte sich ein Grüppchen gebildet. „Bestimmt die Leiterin, ihr Vorbild oder ihre Gurine.“ dachte sich Sonja während sie die Veggie-Burger gierig in ihren Mund stopfte. Irgendwann trafen sich ihre Blicke mit denen der Lehrerin. Sonja schaute weg. „Die scheint ja in mich hinein und durch mich durch zu schauen. Wie grässlich.“ Da stand die vermeintlich Leiterin auf, kam zu ihr und stellte sich vor. “ Hallo, ich bin Ann. Sorry für meine Akzent ich komme aus Kalifornien. Darf ich mich zu Dir setzten.“ „Ja, bitte.“ Nach einer weiteren Musterung sagte Ann „Well, Deine Schwester hat so etwas angedeutet, dass es Dir nicht so gut geht And so you know, ich muss sagen, es sieht nicht gut aus in Deiner Aura. Lauter dunkle Schatten, fremde Energien, die sich an Dir festkrallen. Sorry, komm erst mal an. Wenn Du möchtest, kann ich Dir morgen in der Mittagspause eine Clearingsession geben. Bye!“

Und weg war sie. Sonja war der Appetit vergangen. „Es wurde ja immer besser. Dunkle, fremde Energien, die sei aussaugten. Soll die doch gleich sagen, sie werde von Vampiren begleitet.“ Sonja stand auf und ging in das Haupthaus, den privaten Bereich, wo sie auf ihren Schwager traf. Reinhold begrüßte sie und grinste. „Na, was ist Dir passiert? Hast Du unseren amerikanischen Star aus der Eso-Szene schon kennengelernt? Und hat sie Dich auch gleich durchleuchtet? Komm, mach Dir nichts draus. Macht die bei mir auch immer. Sie gibt einmal im Jahr bei uns ein Gastseminar. Die Leute lieben sie. Du hast ja gesehen, wie voll es bei uns ist. Jetzt lass uns erst mal ein Bier trinken, komm.“ Er ging mit ihr auf die Privatterrasse zum Seeufer, wo sie völlig ungestört Bier miteinander tranken, erzählten und warteten bis Monika kam. Sonja war von der Fahrt und dem Bier so müde, dass sie sich schon früh in das private Gästezimmer zurückzog. In dieser Nacht schlief sie lange und traumlos. Als sie aufwachte war es bereits nach zehn. „Gott sein Dank, dann muss ich mich nicht noch von Ann einer weiteren Diagnose unterziehen lassen oder mich womöglich zum Clearing verabreden“, dachte sich Sonja räkelnd. Unter der Dusche genoss sie die Vorstellung von ein paar freien Tagen, ohne Terminstress und ohne diese merkwürdigen Dinge in ihrer Wohnung. Wolfgang würde sie vielleicht am Wochenende besuchen kommen. Ihre Schwester stand in der Seminarhausküche am Herd und bereitete das Mittagessen für die Teilnehmer vor. Sonja schnappte sich Obst und Brot und eilte zurück auf die Privatterasse.

In der Mittagspause ließ sie sich nicht im öffentlichen Bereich blicken. Sie wollte ihre Ruhe haben, lag in ein Decke gehüllt auf dem Liegestuhl, las, träumte und döste immer wieder ein. Das schrille Klingeln ihres Handys riss sie aus diesem Dämmerzustand. „Hallo, hören Sie mich? Hier ist Frau Müller von zwei unter Ihnen. Danke, dass Sie mir extra Ihre Handynummer da gelassen haben. Hallo? Hallo, verstehen Sie mich denn überhaupt?“ Frau Müller brüllte aufgeregt ins Handy. Sonja musste es weit von ihrem Ohr weghalten um keinen Hörschaden zu bekommen. „Ja, natürlich, ich verstehe Sie sehr gut. Frau Müller, ist irgendwas passiert oder weshalb rufen Sie an?“ Sonja runzelte die Stirn. „Stellen Sie sich vor, die Polizei war vorhin da und ist in besagter Wohnung verschwunden. Als sie wieder rauskamen, hatten sie einen extrem mageren, sehr bleichen Mann mit schwarzgefärbten Haaren zwischen sich. Sie können sich nicht vorstellen, wie der aussah. Wie Dracula persönlich, geschminkte und blutunterlaufene Augen. Hinter ihm trug ein anderer Beamter ein abgebrochenes Steinkruzifix heraus. Es sah aus, wie von einem Friedhof. Als ich näher kam, scheuchten sie mich weg. Die Freundin von dem Blassen blieb in der Wohnung zurück und legte sofort wieder diese komische Musik auf. Die sah genauso bleich und mager aus. Bestimmt Grabräuber. Hab mal gelesen, glaub‘ in der Bildzeitung, dass die so satanische Rituale auf Friedhöfen feiern, Grabsteine klauen, tote Katzen und Mäuse einsammeln und zuhause mit der Anrufung von Toten weitermachen. Ich glaube, das sind solche. Und das bei uns im Haus!“ Sonja war es ganz flau geworden. Vor solchen Sachen hatte sie schon immer große Angst gehabt. Wenn Monika als Teeny mit ihrem Bruder Dracula Filme anschaute, war sie immer aus dem Raum gegangen. „Und das jetzt bei ihr, direkt unter ihrer Wohnung! Wie schrecklich, was sollte sie nur manchen?“

Im Laufe des Tages versuchte sich Sonja mit Lesen, Fahrradfahren und einem großen Eis in Konstanz’ bester Eisdiele von den Geschehnissen in Berlin abzulenken. Doch am Abend war ihre Angst vor dem, was da direkt unter ihrer Wohnung ablief so groß, dass sie sich lieber zum Abendessen in den Speiseraum setzte als weiter allein darüber nachzugrübeln. Als sie den Raum betrat, winkte Ann sie sofort herbei. „Oh my gosh! Was ist passiert? Du siehst ja schrecklich aus! Total mitgekommen. Deine Aura ist noch düstererer als gestern und um dich herum sind dicke graue Wolken? Was hast du gemacht?“ Sonja, begann zu zittern. Dann schluchzte sie auf. So etwas passierte ihr normalerweise nicht. Aber hier hatte sie das Gefühl sich auch schwach zeigen zu dürfen. So erzählte sie Ann die ganze Geschichte. „Well, das ist zwar schlimm, aber nicht wirklich ein Problem. Ich schlage Dir vor, Du kommst nach dem Abendessen in den Sessionraum und ich entsorge diese grauen Wolken um Dich und erlöse Dich von Deinen Ängsten. Und dann gebe ich Dir eine Telefonnummer von einer sehr erfahrenen Kollegin in Berlin. Sie kann sich um Deine Wohnung kümmern und vielleicht auch von der, der alten Dame. Du wirst sehen, alles wird gut.“ Dankbar schaute Sonja sie an und zwang sich wenigsten ein halbes Käsebrot zu essen. Der warme Kräutertee beruhigte ihren Magen.

Wie verabredet, betrat sie um 20 Uhr den Sessionraum. Eine angenehme, wohlige Atmosphäre umfing sie. Ann bat sie sich in den Sessel ihr gegenüber zu setzen. Auf dem kleinen Tisch brannten Kerzen. Bevor Sonja sich auf die Behandlungsliege legte, ging Ann mit ihr noch einmal die wichtigsten Punkte durch. Als Sonja unter der leichten Wolldecke lag, verflog ihre anfängliche Skepsis. Sie entspannte sich, hörte der angenehmen Stimme von Ann zu und genoss dann die Stille in der Ann das Clearing durchführte. Sonja fühlte, wie es in ihr immer leichter und heller wurde. Manchmal schien regelrecht ein Feuer in ihr entfacht zu werden, dazwischen umwehte sie immer wieder ein kühler Windhauch. Sehr intensiv nahm sie die unterschiedlichen Energien wahr. Als Ann sie sanft am Arm berührte, fühlte Sonja sich so wohl und entspannt, wie schon eine Ewigkeit nicht mehr. Ann riet ihr jetzt nicht viel zu reden, sondern sich besser in ihr Zimmer zurückzuziehen, etwas Warmes zu trinken und zu schlafen. Dankbar verabschiedete sich Sonja von ihr.

Am Morgen wachte sie voller Zuversicht und Tatendrang auf. Als sie in der Küche ihrer Schwester begegnete, umarmte sie sie dankbar. Jetzt konnte sie zum ersten Mal verstehen, warum ihre Schwester dieses Haus führte und völlig darin aufging, die unterschiedlichsten spirituellen Lehrer aus der ganzen Welt bei sich zu Gast zu haben. „Du, Monika, ich glaube, ich muss mich bei Dir entschuldigen. Mit meinen dummen Vorurteilen habe ich Dir nie eine Chance gegeben mir zu erklären, was Du hier wirklich machst. Mir geht es heute Morgen so gut und ich ich weiß, dass ich das Ann zu verdanken habe.“ Gerührt schaute Monika ihre Schwester an. „Ach Sonja, das freut mich, dass Du das jetzt so sehen kannst. Ich wusste, dass Du eines Tages verstehen wirst, warum ich das hier mache. Komm, lass uns zusammen frühstücken.“ Nach dem Frühstück hatte Sonja es eilig zurück nach Berlin zu fahren und auch ihre Wohnung energetisch reinigen zu lassen. Sie erklärte Monika, was sie vorhatte und gab ihr einen Umschlag mit dem vereinbarten Honorar für Ann und einen kurzen Dankesgruß.. „Viel Glück und melde Dich, wenn Du angekommen bist.“ Winkend stand Monika auf dem Parkplatz. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wie schön, das wir uns endlich wieder näher gekommen sind.“ dachte sie glücklich, als sie wieder ins Haus ging.

Sonja rief noch von der Autobahn aus die Feng Shui Frau an. Als sie erzählte, dass sie die Nummer von Ann hatte, freute die Beraterin sich offensichtlich. Nachdem Sonja ihr die Situation geschildert hatte, schlug die Beraterin ihr vor, in diesem Fall möglichst rasch zu handeln, um Ruhe vor diesen düsteren Energien zu haben. Sie vereinbarten bereits für den nächsten Vormittag einen Termin.

Blinkendes Blaulicht empfing Sonja vor ihrem Haus. Schräg auf dem Bürgersteig parkte ein Krankenwagen. Die Sanitäter trugen eine ältere Dame mit Schläuchen versehen, auf einer Trage festgeschnallt, durch den Eingang und schoben sie in den Krankentransporter. „Frau Müller, um Gottes Willen! Frau Müller! Was ist geschehen?“ Sonja war ganz blass geworden, ihre Knie zitternden und sie bekam kaum noch Luft. „Kind, machen Sie was! Es wird immer schlimmer. Die haben mir den Teufel geschickt. Bitte glauben Sie mir!“ flehte Frau Müller Sonja mit leiser, kraftloser Stimme an. Sonja sah dem mit Blaulicht eingeschaltet Krankenwagen konsterniert nach. „Wie kann es nur sein, dass die arme Frau Müller so davon mitgenommen wurde?“ Sie war eine ruhige und nette Frau, die niemanden störte, freundlich grüßte und ihr manchmal mit Zucker oder Milch aushalf, wenn sie vergessen hatte, sich rechtzeitig alles zu besorgen. Sonja hatte Angst. Sie traute sich nicht in ihre Wohnung. „Wolfgang, kann ich zu dir kommen? Ich bin schon wieder in Berlin. Ich erkläre Dir alles.“ Wolfgang reagierte genervt. „Mensch Sonja. Dieses Hin und Her. Ich habe schon auf halber Strecke zum Bodensee einen Termin mit einem Kunden vereinbart. Die Geschichte mit Deiner Wohnung wird allmählich richtig nervig. Viellicht solltest Du deswegen mal einen Psychiater aufsuchen. Sorry, aber ich muss jetzt los. Den Termin mit dem Kunden muss ich einhalten.“ Wolfgang legte auf und Sonja schossen die Tränen in die Augen. „Wieso nur war er nie für sie da, wenn sie ihn wirklich brauchte? Machte sie sich mit dieser Beziehung nicht etwas vor? Wegen dem bisschen guten Sex, ab und zu einem Essen beim Italiener oder einem lustiger Abend mit Freuden. War es das, was sie wollte? War Liebe nicht auch, für den andren da zu sein, wenn man in Not war?“

Traurig und verzweifelt ging sie in ihre Lieblingsespressobar um die Ecke. Als sie ihren Cappuccino an einen Platz am Fenster trug, stolperte sie und verschüttete ihren Kaffee. „Au, der war aber heiß!“ Sonja blickte hoch und sah in strahlende blaue Augen. „Oh je, ist mir das peinlich!“ Wieder brach sie in Tränen aus. Sie konnte nicht mehr. „Oh bitte. Nicht weinen. So schlimm ist es ja nicht. Ich bringe nachher alles in die Reinigung. Jetzt beruhigen Sie sich doch erst mal.“ Ritterlich reichte er ihr ein Taschentuch, bat den Kellner um ein Handtuch, um den Rest wegzuwischen. Dann half er Sonja auf ihren Stuhl. Dankbar blickt sie ihn an. „Mein Gott, sieht der gut aus. Und ich, bestimmt ist meine Wimperntusche völlig verschmiert und meine Nase ganz rot.“ „Danke. Das ist wahnsinnig nett.“ Er ging kurz zum Tresen und stelle ihr einen frischen dampfenden Cappuccino hin. „Hier, trinken Sie den. Ich bin übrigens der Bernhard. Habe Sie schon ein paar Mal hier gesehen. Sie sind die schöne Frau, die es immer furchtbar eilig hat.“ Nun musste Sonja doch noch lächeln. „Sonja, ich bin Sonja. Leider habe ich Sie noch nie bemerkt. Eigentlich merkwürdig, wo sie doch so sympathisch sind.“ „Macht nichts. Jetzt kennen Sie schon mal meinen Namen. Möchten Sie mir erzählen, was los ist? Sie wirken sonst immer so selbstbewusst. Das heute passt gar nicht zu Ihnen.“ So erzählte ihm Sonja die ganze Misere. Bernhard hörte ruhig zu und stellte ab und an sinnvolle Fragen. Beim zweiten Kaffee riet er ihr sich für eine Nacht bei einer Freundin oder in einer Pension einzumieten. „Ohne die Beraterin sollten Sie nicht in Ihre Wohnung gehen.“ Sonja war erleichtert, dass er sie nicht, so wie Wolfgang, für verrückt und hysterisch erklärte. Im Gegenteil, er schien sich mit solchen Sachen auszukennen. „Wieso verstehen Sie das alles? Meistens sind es doch nur Frauen, die einen Bezug zu so etwas haben?“ „Ah, hier meine Visitenkarte, ich bin Architekt, Baubiologe und Geomant. Im Laufe meiner beruflichen Erfahrungen habe ich mich immer weiter gebildet. Als nächstes kommt noch eine energetische Feng Shui Ausbildung dazu. Ich bin so vielen unerklärlichen Phänomenen begegnetet, dass ich mehr über diese Dinge erfahren möchte. Es gibt so vieles, was rein wissenschaftlich absurd erscheint und dennoch existiert. Wenn wir lernen zu akzeptieren, dass das so ist, machen wir uns das Leben leichter. Mit der Ausbildung zum Feng Shui Berater möchte ich lernen, auch damit umzugehen und es sogar ins Positive zu verändern.“ Sollen wir uns nicht duzen?“ Sonja nickte. „Komm doch morgen früh dazu, wenn die Beraterin in meine Wohnung kommt. Vielleicht ist das ganz spannend für Dich. Und, ehrlich gesagt, würde es mir auch ein gutes Gefühl geben, Dich an meiner Seite zu wissen.“ Bei ihren letzten Worten war Sonja über sich selbst erstaunt. Sie hatte das so selbstverständlich gesagt. Bernhard freute sich offensichtlich und so verabredeten sie sich für den nächsten Morgen um 11 Uhr vor ihrem Haus.

Sonja übernachtete bei Karin, einer alten Schulfreundin, die auch nach Berlin gezogen war. Sie musste den ganzen Abend an Bernhard und seine blauen Augen denken. „Wie gut er sie verstanden hatte. Ganz anders als Wolfgang, der in ihr immer nur die gut gelaunte, sexy Freundin sehen wollte.“

Sie trafen beinahe alle gleichzeitig an, Bernhard, die Beraterin und Sonja. Gemeinsam gingen sie durch das alte Treppenhaus in die vierte Etage. Schon auf dem Weg dorthin war das Treppenhaus kalt und düster. Auch der Geruch war ein Gemisch von widerlicher Süße und etwas Herbem, Unangenehmen, das beim Atmen wie Gift in die Lungen drang. Sonja schloss die Tür auf, eilte zu allen Fenstern und riss sie auf. Der Beraterin stellten sich die Härchen an den Armen auf und sie bekam eine Gänsehaut. „Oh je, das ist wirklich heftig, was hier läuft. Kein Wunder, dass Sie hier nicht mehr schlafen können und Angstzustände bekommen.“ Bernhard hielt sich die ganze Zeit etwas abseits. Sonja führte die Beraterin durch alle Zimmer. Immer wieder konnte die Beraterin ihr genau erklären, unter welchem Zimmern es am Heftigsten war und welche Ecken unbelasteter waren. Bernhard war inzwischen zu ihnen gekommen und stellte auch die ein oder andere Frage. Die Beraterin erklärte ihre Vorgehensweise und beschrieb den beiden, warum diese Methode in solchen Fällen äußerst wirksam war. „Das klingt sehr plausibel. Sagen Sie, bilden Sie auch in Ihrer Methode aus?“ „Ja, ich gebe Ihnen meine Karte. Wenn es Sie interessiert, können Sie mich gerne anrufen. Auf meiner Website finden Sie eine Beschreibung und die aktuellen Termine.“ Bernhard nahm interessiert die Visitenkarte und steckte sie ein. „Ja, sehr. Ich bin schon die ganze Zeit auf der Suche nach einer passenden Feng Shui Ausbildung. Ich melde mich. Danke.“ Sonja vereinbarte mit ihr einen Termin für den nächsten Tag. Sie selbst würde nicht anwesend sein, sondern ihr nur vor dem Haus den Schlüssel geben. Als sie beim Weg nach unten erzählte, dass Frau Müller sogar im Krankenhaus war, schlug ihr die Beraterin vor sie zu fragen, ob sie nicht auch gleich eine Feng Shui Beratung wollte. „Solche aggressiven Energien breiten sich in allen benachbarten Wohnungen aus und vergiften die ganze Umgebung.“

Bernhard und Sonja gingen automatisch zusammen in die Espressobar und holten sich einen Kaffee. „Was denkst Du? Meinst Du, sie kann mir helfen?“ Bernhard überlegte einen Moment bevor er ihr antwortete. „Ja, davon bin ich überzeugt. Sie erschien mir sehr kompetent und erfahren. Außerdem weiß ich inzwischen über diese Phänomene genug, um zu verstehen, wie sie vorgeht. Ich bin mir sicher, Du hast Dich richtig entschieden. “ Erleichtert trank Sonja ihren Kaffee aus. „Warum kommst Du dann nicht morgen Abend zum Essen zu mir? Wenn die Energien wieder in Ordnung sind, ist es eigentlich richtig gemütlich bei mir. Und außerdem willst Du ja bestimmt sehen, wie es sich verändert hat.“ „Das ist eine super Idee. Ich bringe einen Wein mit. Rot oder weiß? Du trinkst doch Wein?“ „Rot. Sagen wir um 20 Uhr. Sind Tagliatelle mit Steinpilzen und Salat okay?“ „Sehr gerne. Ich freue mich. Bis morgen Abend.“

Sonja machte sich auf den Weg ins Krankenhaus zu Frau Müller. Als sie an ihr Bett trat, sah die alte Dame schon etwas besser aus. „Wie geht es Ihnen Frau Müller? Ich habe Ihnen ein Stück Kuchen, eine Zeitschrift und einen kleinen Blumenstrauß mitgebracht.“ „Viel besser. Die sind sehr nett hier. Und ich musste anscheinend erst mal ins Krankenhaus kommen, damit meine Tochter mich endlich mal wieder besucht.“ Schmunzelnd holte sie ein Foto hervor. „Schauen Sie, sie hat sogar meine Enkeltochter mitgebracht. Wir haben uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“ Sonja betrachtete das blondgelockte kleine Mädchen und die nette Mutter. „Ihre Tochter sieht Ihnen richtig ähnlich.“ Sonja berichtete von der Beraterin und erzählte Frau Müller, was diese gesagt hatte. „Ich möchte das unbedingt auch. Haben Sie die Telefonnummer dabei?“ Sonja gab sie ihr. Mit resoluter Stimme meldete sich Frau Müller. Erklärte kurz ihr Anliegen. „Sie macht meine Wohnung direkt im Anschluss an Ihre. Ist das nicht wunderbar? Dann können wir alle wieder aufatmen. Und dann kommen Sie endlich mal auf einen Kaffee zu mir.“

Erst am Abend, als Karin Sonja nach Wolfgang fragte, fiel Sonja auf, dass sie völlig vergessen hatte an ihn zu denken. Stattdessen waren da immer diese blauen Augen vor ihr. Morgens übergab sie die Schlüssel – wie vereinbart – der Beraterin vor dem Haus. Nach drei Stunden sollte sie wieder kommen. Oder auch erst, wenn die Beraterin bei Frau Müller fertig war. Sonja hatte ihr für deren Wohnung auch die Schlüssel gegeben. „Ich komme lieber erst um 18 Uhr, wenn Sie mit allem fertig sind. Hier ist meine Handynummer. Wenn etwas ist, können Sie mich anrufen.“ Sonja wollte möglichst weit weg sein. Hauptsache es wirkte. Das Wie interessierte sie nicht so sehr. Sie fuhr an das andere Ende der Stadt, um Besorgungen zu machen.

Als Sonja sich am Abend vor der Wohnung von Frau Müller von der Beraterin verabschiedet hatte, ging sie mit klopfendem Herzen nach oben. Schon das Treppenhaus kam ihr deutlich freundlicher vor. Ihre Wohnung war wie verwandelt. Alles strahlte sie freundlich und hell an. Endlich konnte sie wieder wahrnehmen, wie gemütlich es war. Fröhlich legte sie eine CD in den Player und begann das Abendessen vorzubereiten. Als Bernhard zur Wohnungstür hereinkam, stieß er einen Pfiff aus. „Wow, die hat aber gezaubert. Deine Wohnung ist kaum wiederzuerkennen. Oder hast Du Großputz gemacht und extra für heute Abend Lampen aufgestellt“?“ „Oh nein,“ erwiderte Sonja lachend. „Dazu hätte ich überhaupt keine Zeit gehabt. Ich bin selbst erst vor Kurzem zurückgekommen. Ich finde es auch ziemlich beeindruckend.“ Sie verbrachten einen verzauberten Abend mit tiefsinnigen Gesprächen und liebevollen Neckereien. Als Bernhard sich verabschiedet hatte, waren ihm zwei Dinge klar: Sonja gefiel ihm sehr und, er würde bei dieser Beraterin die Ausbildung machen.

Sonja hatte herrlich geschlafen. Wie vereinbart holte sie Frau Müller im Krankenhaus ab. Auch diese war völlig überrascht als sie ihre Wohnung betrat. „Kaum zu glauben! Alles ist so schöne hell und freundlich. Wie hat diese Frau das nur gemacht?“ Sie kramte in einer Schublade und holte ein paar Fotografien heraus. „Schauen Sie mal. Damit die Polizei mir glaubt, wie schrecklich es ist, habe ich meine Wohnung fotografiert. Sehen Sie, wie düster alles war? Ich hatte ja auch Angst, dass die vielleicht alles abfackeln.“ Sonja betrachtete entsetzt die Fotos. „Das sollte die gleiche Wohnung sein, wie die in der sie jetzt stand? Diese gemütliche Ecke war so düster gewesen“ „Es ist wirklich kaum zu glauben. ich bin froh, dass wir beide uns endlich wieder wohlfühlen können. Mal schauen, wie es weiter geht. In vier Wochen kommt die Beraterin wieder und überprüft alles. Jetzt kommen Sie erst mal gut wieder an.“

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Über die Autorin

Parvati S. Hörler ist Fengshuimeisterin und Schamanin. Durch eine sensiblere und vielschichtigere Wahrnehmung nimmt sie die Außenwelt intensiver wahr. Lesen Sie die Geschichte von Parvati S. Hörler.

5 Kommentare

  1. Liebe Parvati,
    endlich wieder ein Kapitel deiner Krimi Serie. Auch dieses mal, super spannend und sehr berührend.
    Ich wünsche mir noch ganz viele Folgen unterschiedlichster Art und freue mich auch diesmal wieder
    auf die nächste Geschichte.
    Liebe Grüße
    Marianna

  2. Liebe Parvati,
    wie konnte es sein, dass mir dieses Kapitel deiner Feng Shui Krimis erst jetzt aufgefallen ist? Ich bin begeistert – wie schon bei den anderen Geschichten und freue mich schon auf die kommenden Artikel!
    Alles Liebe
    Christine

  3. Liebe Christine,

    das freut mich, dass es Dir wieder gefallen hat. Nächste Woche wird es in Bayern weitergehen. Kann ich Dir zwecks bayrischer Sprachkenntnisse etwas zum vorab Korrekturlesen schicken? Denn so ganz beherrsche ich den Dialekt dann doch nicht. Wäre super, danke.

    Von Herzen

    Parvati

  4. Hallo Parvati
    So schön menschlich und
    schmunzelhaft wie Du schreibst.
    Nur der stereotype Blick
    aufs Dunkle läst mich die
    Leftzen hochziehn.
    Die echten Satanisten
    wie Boyd Rice , N. Schreck
    Zena la Vey … ,
    begegnen bewußt ihren
    Abgründen um sie zu
    Integrieren.
    Sie propagieren die Eigen –
    verantwortung und heilung
    der Sinnlichkeit , nachdem
    von Ost bis West die Priester
    die Menschheit mit “ Sünde “
    versklavt hat .
    Auch braucht die Seele das
    „nächtige“ um sich deutlicher
    zu sehn.
    Ich denke dazu braucht es
    viel Reife und ich bewundere
    solche Leute die sich auch in
    Abgründe wagen.
    Lieben Gruß
    Stefan